Der erste Eindruck - täuscht

Die Stadt präsentierte sich mir zunächst ziemlich einseitig: Grosse, graue Gebäude, viel Beton, wenig grün, viel Verkehr und viel Lärm. Und selbst die hier als Parks bezeichneten Asphaltstreifen, auf denen sich, aus biologischer Sicht unerklärlichen Umständen, der eine oder andere Grashalm verirrt hatte, waren wirklich nicht erwähnenswert.
Wenn man aber erst einmal ein paar Orte kannte, konnte man sich vor kulturellen, qualitativ hochwertigen und günstigen bis kostenlosen Veranstaltungen wie Ballettaufführungen, Museen und Theater kaum retten. Und sobald man doch etwas weiter aus dem Zentrum hinausging, gab es auch viele schöne Gebäude, grüne Parks und saubere Luft. Am Wochenende gab es dann an solchen Orten meist Flohmärkte, die sich wie eine Schlange um den Platz zogen, innen und außen gefüllt mit Vorführungen von Sport und Tanzvereinen, Sängern und Bands.

Integration bis hin zu unbekannten Bräuchen

Toll war auch die Aufgeschlossenheit der Menschen. So spielte ich zum Beispiel ab und an Fußball mit ein paar Jungs die ich mehr oder weniger gar nicht kannte und auf der Strasse kennen gelernt hatte. Ich hatte auch eine Gruppe von Mexikanern, Kolumbianern und Argentiniern kennen gelernt mit denen ich immer wieder abends ausging.
Ich organisierte mir einen Sprachkurs und lernte meinen Sprach-Tandempartner Pablo kennen, einem Biochemiestudenten der seit 2 Jahren deutsch lernte. Wir trafen uns regelmäßig, tauschten unsere Sprachprobleme aus und erklärten einander die Bräuche des jeweiligen Landes. So zum Beispiel die dort üblichen Begrüßungssitten, an die ich mich bis heute nicht gewöhnt habe: Jeder, egal ob Mann oder Frau, alt oder jung, bekannt oder fremd wird mit einer Umarmung und einem Kuss auf die Backe begrüßt. Und so war ich bei dem einen oder anderen Treffen in großen unbekannten Gruppen gefangen und agierte wie die Glasurmaschine in einer Schokoladenfabrik: schnell vorschießend und augenblicklich wieder zurück, innigst versuchend möglichst akkurat daneben zu küssen. Nach der Akkordarbeit  waren die Backen oft rau vom aneinander reiben männlicher Bärte, feucht - nicht nur vom Angstschweiß - und die Lunge voll inhalierter und teils noch nie zuvor erfahrener Düfte.

Ganz gewönlicherKrankenhausalltag

Das Praktikum in der Klinik war sehr interessant. Zwar durfte man als Student quasi nichts machen und nur zugucken, konnte aber sehr viel sehen und lernen. Nach 8 Wochen hatte ich einen noch günstigeren Wohnort in einem Wohnheim für Studenten gefunden, wo ich den Rest meines Aufenthalts verbringen sollte . Wir hatten dort eine Terrasse auf der regelmäßig Asados (Grillabende) stattfanden, einen Fernsehraum und mein Bett roch nach nassem Hund. Viel herumgereist bin ich in Argentinien aus finanziellen Gründen nicht, habe aber viele tolle Leute kennen gelernt.
So zum Beispiel einen ausgeflippten 78-jährigen Musiker und ehemaligen Mathematiklehrer der Computerspiele selbst programmierte um seinen Schülern Instrumente beizubringen und auch über Webcam Unterricht erteilte. Auch ich gehöre jetzt zu seinen Webcam-Schülern.
Die letzten 3 Wochen meines Praktikums verbrachte ich in der Radiologie tief in den Katakomben der Klinik. Dass Ärztekittel in Argentinien wörtlich übersetzt "Staubschutz" heißen musste zweifellos dort seinen Ursprung haben. Der Chef war ein gedrungener, erdverbundener älterer Mann in einem für ihn viel zu groß erscheinenden Sessel. Als er sich bei seiner Vorstellung erhob und nicht viel an Größe gewann da er hauptsächlich aus Oberkörper bestand, wusste ich es: Ich kannte ihn aus "Herr der Ringe"! Es dauerte nicht lange bis Gimli mir die gesamte Abteilung präsentierte und mich anschließend in einem dunklen Raum zurückließ, in dem ich die nächsten 3 Wochen verbringen sollte.

Aufenthalt der Kontroverse

Insgesamt war der Aufenthalt ein Erlebnis der Extreme. Ein fast schon krankhafter Fitness und Schönheitswahn bei denen die es sich leisten konnten und auf der anderen Seite auf der Straße lebende und sich vom Müll ernährende Menschen. Pompöse Tangovorstellungen neben heruntergekommenen längst sanierungsbedürftigen Gebäuden. Betonierte Städte neben paradiesischer, unberührter Natur; unzuverlässige, raffgierige Menschen neben bemerkenswert hilfsbereiten und aufgeschlossenen - so wie Pablo, mein Sprachpartner, der mich nächstes Jahr vermutlich besuchen kommt. Vielleicht lernt der eine oder andere von Euch ihn ja auch kennen.

Ali Behzad

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