Italien (von Sebastian Kraft)

Eine Reise zurück in die Zukunft

Es ist weit nach Mitternacht, als ich im römischen Trastevere auf dem Platz vor der Basilika Santa Maria stehe. Ich halte das Eis in der Linken, das Telefon in der Rechten und höre um mich herum Stimmengewirr einer Sprache, die ich nur in Wortfetzen verstehe. Auch wenn ich immer nur einzelne Satzteile verstehe, – was allerdings auch an dem derben römischen Dialekt meiner Freunde liegt – blicke ich zufrieden auf das Eingangsportal der prächtigen Basilika im römischen Stadtteil Trastevere, jenseits des Tibers. Ich habe die Phalanx der deutschen Kommilitonen und Mitbewohner durchbrochen und stehe nun inmitten von sympathischen Italienern. Die Feuertaufe also, der Sprung ins kalte Wasser;  man muss zwangsläufig anfangen  zu schwimmen. Als ich wenige Minuten später die alte römische Straße entlang dem Tiber in Richtung Unterkunft tendle, komme ich immer wieder am beeindruckenden Petersdom vorbei. Meine Gedanken kreisen um alte Zeiten. 2003 ging ich nach dem Abitur nach Tschechien und verstand anfangs nur Wortfetzen einer Sprache, die mir einst unaussprechlich schien und heute vertraut wie meine Muttersprache ist. Jetzt bin ich (Schreck!) fünf Jahre älter und stehe wieder in mitten von netten jungen Leuten, deren Sprache ich von Tag zu Tag mehr und besser verstehe. Die Reise nach Rom wird eine Reise zurück in die Vergangenheit. Und der Dialekt meiner römischen Freunde lässt ein Lächeln über meine Lippen huschen. Damals in Jablonec nad Nisou / Gablonz an der Neiße sollte ich ja eigentlich auch Tschechisch lernen und habe jede freie Minute mit Slowaken verbracht.

Finanzierter Urlaub oder harte Arbeit?

Drei Wochen durfte ich über meine Stiftung mit finanzieller Unterstützung der Unternehmenswitwe Irmgard Ulderup an einem Sprachkurs in Roma teilnehmen, um mein Universitätsitalienisch fit für die Praxis zu machen. Drei Wochen war ich also wieder Ausländer in einem Land, das ich kaum kannte. Natürlich hatte ich vieles  vorher gelesen. Ich habe sogar eine Hausarbeit zum italienischen Wahlrecht verfasst, aber diese drei Wochen im Land selber brachten mich wieder um Meilensteine weiter. Nicht nur sprachlich, – vier Stunden Intensivkurs am Tag plus Hausaufgaben sind anstrengender als man denkt – sondern auch kulturell und zwischenmenschlich. Niemand kann sagen, er kenne ein Land, wenn er es nicht selbst – samt seiner Sprache – von innen kennen gelernt hätte.

Gut, Rom ist nun nicht unbedingt Italien und jeder dort lebende Bürger auch nur sekundär Italiener, den primär ist er ja Römer. Wer braucht schon Turin oder gar Mailand? Zugegeben, da Rom meine Lieblingsstadt ist, sehe ich das etwas durch die rosarote Brille, aber wenn es eine europäische Seele gibt (wovon ich felsenfest überzeugt bin), dann haben die Italiener wesentlichen Anteil daran. Nirgendwo wird das Essen mehr als Kultur zelebriert, nirgendwo schmeckt mir ein Gläschen Wein besser als in unserer Altbauwohnung in Vatikannähe, nirgendwo liebe ich den Gang durch die belebten Markhallen mit saftigem Obst, frischem Gemüse und – unübertroffen – Mozzarella mehr als in Rom. Und in keiner anderen Stadt würde es mir Spaß machen, nachts um 2h irgendwo im Stau zu stehen.

Alle Italiener lieben Hotel Mama und betrügen den Staat...

Vorurteile gibt es in Deutschland über Italiener bekanntlich genauso viele wie über Tschechen, Polen und Österreicher. Dabei wird gerne vergessen, dass das umgekehrt natürlich genauso ist. Das gehört aber auch irgendwie dazu und hält die europäische Seele am Leben. Lebt man aber längere Zeit in einem Land und lernt die Sprache, kann man diesen Vorurteilen auf den Grund gehen und erkennt deren wahren Kern. Warum wohnt ein Italiener mit 30 immer noch bei seiner „Mamma“?  (das hat nämlich ganz andere Hintergründe als die gängigen Vorurteile!) oder: Warum werden manche Gesetze vielleicht etwas lockerer genommen als in Deutschland? Aber irgendwie ist es dann auch eine gewisse Genugtuung, wenn man in seiner Stammbar nicht mehr einen offiziellen Kassenzettel für den Capuccino und das köstliche Cornetto bekommt, weil man den Wirt nach einer Woche mittlerweile gut kennt. Dann ist zwar der Staat um die Mehrwertsteuer betrogen worden, aber man fühlt sich aufgenommen in die „famiglia.“ Zugegeben, als Ausländer ist man dann schon etwas stolz.

Roma o Lazio-die Chance steht bie 50:50

Wäre Rom nicht christianisiert worden, wäre der calcio wohl heute offizielle Staatsreligion. Nichts bringt die italienische Seele mehr in Rage als der geliebte Fußball, der ja eigentlich auch alle europäischen Völker vereint. Kennt man sich als Ausländer in der Szene etwas aus, öffnet das schnell alle Türen für einen netten Abend in einer Bar. Zwar wird man dann früher oder später zwangsläufig vor die alles entscheidende Frage gestellt, die Freund und Feind entscheidet („Roma o Lazio?“ – Fan vom AS Roma oder Lazio Roma?), aber mit Fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit hat man dann tatsächlich neue Freunde gewonnen. Der Lohn der Menschenkenntnis ist dann ein Gläschen süßen Wein wie an jenem Ligaabend in einer römischen Kneipe unweit der Piazza Navona. Oder jene nicht enden wollende Nacht mit zwei italienischer Geschäftsleuten nach Feierabend, als ich Einblicke in das tiefe Innere der italienischen Seele bekommen durften. Und als der Wirt als Rausschmeißer den Klassiker „Tutta Mia La Città“ auflegte und jeder die Ode an seine Heimatstadt mitgrölte, fühlte man sich in dieser „Città“ irgendwie auch zu Hause.

Drei Wochen in einer fremden Stadt, in einem fremden Land, die mich wieder ein Stück verändert haben, die mich wieder ein Stück geprägt haben und mir wieder klar gemacht haben, was es heißt, ein Ausländer zu sein, nachdem ich mich als selbiger in Tschechien nicht mehr wirklich fühle. Eine Erfahrung, die man immer wieder machen sollte. Und irgendwie freue ich mich darauf, wieder in diese „Tutta Mia La Città“ zurückzukehren.

Sebastian Kraft