Im Land der „Zwillinge“

„Polen? Du verbringst ein Semester in Polen? Warum ausgerechnet Polen?“ Diese oder ähnliche Fragen wurden mir, bezüglich meines nahenden ERASMUS-Wintersemesters 2007/08 an der Universität Warschau, mehrmals gestellt.
Spätestens nach ein paar Wochen in Warschau erschien mir diese Frage schnell erübrigt, da die Herzlichkeit und die Gastfreundschaft der Polen, aber auch ihre Kultur und ihre Geschichte mich schwer beeindruckten.

Realität vs. PolitikDie beschriebenen polnischen Eigenschaften konnte ich in Warschau mehrmals z.B. im Hause von polnischen Freunden genießen. Eigens zu meinen Besuchen wurde alles aufgetischt, was die polnische Küche zu bieten hat: Piroggen mit ordentlich „kapusta“ (Kraut), „Źurek“ (saure Mehlsuppe), „Bigos“ (gedämpftes Sauerkraut mit gehacktem Fleisch) und zum Schluss den obligatorischen Kompott.

Zugegebenerweise hatte ich soviel Gastfreundschaft nicht erwartet. Der Grund dafür war sicher auch, dass die politischen deutsch-polnischen Beziehungen zu diesem Zeitpunkt als „unterkühlt“ galten. Die Debatten um die „Quadrat-Wurzel“, die „Neue Polnische Kartoffel“ (FAZ) oder die unwürdige Darstellung der Bundeskanzlerin als „Macocha Europy“ (Stiefmutter Europas) in einem polnischen Magazin ließen diese Situation offiziell nicht besser erscheinen.

Sehenswürdigkeiten in Warschau
Von all diesen politischen Begebenheiten merkte man bei uns ERASMUS-Studenten gar nichts. Warum denn auch? Der überwiegende Teil von uns war in einem Warschauer Studentenwohnheim untergebracht, in dem der Internationalität gefrönt und viele neue Freundschaften geschlossen wurden. Gemeinsam besuchte man die Sehenswürdigkeiten, die Warschau zu bieten hat: den 237m hohen „Palast der Kultur und der Wissenschaft“ (Wahrzeichen Warschaus), das neue und ultrahochmoderne „Museum des Warschauer Aufstandes“ (Muzeum Powstania Warszawskiego) oder den königlichen „Wilanów-Park“ im Südosten von Warschau.

„L'auberge espagnole“?
Wer sich bei diesen Beschreibungen nun an ein Leben wie im Film „L'auberge espagnole“ vorstellt, den muss ich leider enttäuschen. Nach den ersten zwei gemütlichen Einführungswochen am Polonicum der Universität Warschau, fingen Anfang Oktober die Vorlesungen und Seminare an. Aufgrund meiner noch nicht ausgereiften Polnischkenntnisse besuchte ich zahlreiche englischsprachige Veranstaltungen. Aber durch einen Polnischkurs und den täglichen Umgang verbesserte sich mein Polnisch zusehends. Es ist eben wie überall: Ist man in einem Land und beherrscht die Sprache nicht richtig, tut man sich am Anfang schwer, aber das Selbstvertrauen steigt mit jeder Vokabel die man lernt.

Auf Endeckungsreise
Trotz allem blieb noch genug Zeit, um Land und Leute besser kennenzulernen. Da Polen nicht nur aus Warschau besteht und ich auch andere polnische Städte zu besuchen beabsichtigte, wurde die polnische Staatseisenbahn mein treuer Begleiter. Als Student an einer polnischen Hochschule wird ein beträchtlicher Teil des - ohnehin geringen - Fahrpreises erlassen.

Der Besuch des Pauliner-Klosters auf dem Jasna Góra/Hellen Berg bei Częstochowa/Tschenstochau war absolut beeindruckend. Es ist eine der größten katholischen Wallfahrtsstätte überhaupt. Der tiefverwurzelte polnische  Katholizismus wurde spätestens dann offenbar, als die betenden und kontemplierten Pilger am Bildnis der Czarna Madonna/Schwarzen Madonna (auf den Knien!) vorbeischlitterten.

Ebenfalls sehr interessant war die Stadt Toruń/Thorn, wo der weltbekannte polnische Astronom (oder doch deutsche Astronom? - eine Frage, die halb Polen bewegt J) Mikołaj Kopernik/ Nikolaus Kopernikus das Licht der Welt erblickte. Die einmalige und sauber sanierte Altstadt, aber auch die superleckeren Thorner Lebkuchen/“Pierniki“ werden immer in meiner Erinnerung verbleiben.

Auf meinen Zugreisen durch die verschneite polnische Landschaft konnte ich sehr oft die beschriebene polnische Gastfreundschaft und die Herzlichkeit erfahren, die ich eingangs erwähnt habe. Ich kam mit den Zugreisenden sehr leicht ins Gespräch. Von „unterkühlten“ deutsch-polnischen Beziehungen konnte überhaupt nicht die Rede sein. Nein, eher das Gegenteil!

Zusammengefasst war mein ERASMUS-Wintersemester 2007/08 an der Universität Warschau eine sehr interessante, erkenntis- und kulturreiche Zeit in meinem Leben.

Ich halte ein Land in Erinnerung, das mit großen Schritten einen ökonomischen Aufholprozess vollzog und immer noch vollzieht. Dadurch entwickelt es sich auch zu einem wichtigen Land innerhalb der EU.

Ich hoffe, dass ich eines Tages wieder nach Warschau kommen werde, mich auf eine der Stufen des bekannten „Nikolaus-Kopernikus-Denkmales“ setze, in das Gesicht von Kopernikus hochschaue und sinniere: „Nein, du bist weder Deutscher noch Pole! Du bist Europäer!“


Wolfram Röhrig